Over the top – Entwicklung in die falsche Richtung?

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In den letzten Jahren hat sich das Angelgerät kontinuierlich weiterentwickelt. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es kaum wirklich fähiges Weitwurfgerät, ambitionierte Werfer oder Angler, die auf Weite kommen wollten, mussten improvisieren und in der Regel selbst basteln – ein erster Schritt war, Metallhandteile zu nehmen, eine Rutenspitze hineinzustecken, fertig war eine Rute mit hartem Handteil und Spitze mit Sensibilität nach Wahl.
Moderne Materialien und mehr Wissen brachten gerade die Rutenentwicklung voran. Pioniere wie schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts August ‚Primo‘ Livenais oder später John Holden oder Terry Carroll mussten sich etwas einfallen lassen, um mit dem vorhandenen Material härtere, schnellere Ruten zu bauen, um weiter werfen zu können, und die erreichten Weiten stiegen kontinuierlich. Bereits in den 1980er Jahren fielen die 240 Meter, 1994 wurde erstmal die magische 300-Yard-Marke geknackt – mit einer 13′-Rute und abgelegtem Wurf! (Neil Kelland, Rute Conoflex Tournament Extreme, Länge 3,96m; wer eine Originalrute mal werfen möchte findet sie im Bestand von Surfcasting.de)

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Heute sind Ruten mit den Modellen von noch vor 20 Jahren nicht mehr zu vergleichen. Moderne Materialien führten zu immer härteren, schnelleren, schlankeren, leichteren und längeren Modellen; in den richtigen Händen auch zu weiteren Würfen, und es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis sogar die 300 Meter überworfen werden.

Dank dieser neuen Ruten kann fast jeder weiter werfen, sei es in der Brandung oder auf der Turnierwiese, selbst ohne fundierte Wurftechnik, und wie erwähnt führte die moderne Rutenentwicklung zu Weiten, die noch vor einiger Zeit nicht denkbar waren.

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Allerdings trennt sich hier die Spreu vom Weizen; auch wenn die Weiten tatsächlich größer werden, so ist doch deutlich sichtbar, dass eine Lücke klafft zwischen internationalen Topwerfern und der Masse der Werfer. Aber auch an Stränden ist das zu merken – ja, man KANN mit dem modernen Gerät theoretisch weiter werfen, aber man muss es auch beherrschen können, und hier ist der Haken.
‚Normale‘ moderne Angelruten, also nicht die ausgewachsenen ‚Turnierbiester‘, sind heute schneller und straffer als noch vor 20 Jahren die härtesten Turnierruten. Um mit den Ruten von damals auf echte Weite zu kommen musste man wirklich werfen können, um die Ruten aufzuladen und das Beste aus ihnen herauszuholen. Modelle, die heute als zu weich gesehen werden, haben damals in den Händen guter Werfer fast ebenso weit geworfen wie heute mit ‚besserem‘ Gerät. Garry Dickerson aus Südwestengland, jahrelang Mitglied der englischen Nationalmannschaft, warf fast 270 Meter mit einer Zziplex Primo Synchro, eine Rute, die heute höchstens noch als mittlere Rute für durchschnittliches Angeln gelten würde.

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Auch mit älterem oder aber zwar modernem, aber einfacherem Gerät kann man weit werfen. Peter Thain, Werferlegende und immer noch Halter diverser Rekorde, erzählte, er ließ sich seinerzeit von Terry Carroll eine auffallend weiche Rute bauen, vergleichbar heutzutage mit einer handelsüblichen Rute, die vielleicht 50 Euro kosten würde. Hiermit trainierte er, und ja, es war schwierig, mit dem weichen Ding auf Weite zu kommen, also musste an der Technik gearbeitet werden, und mit der richtigen Technik war es doch möglich, jenseits der 200 Meter zu werfen.

Im Gegensatz dazu kann man auch als Beginner natürlich gleich eine straffe, schnelle Turnierrute nehmen; man wird automatisch sehr weit werfen (sehr im Sinne von ganz schön weit; nicht vergleichbar mit echten Weitwürfen. Jeder Wurf von 200 Metern ist sehr weit, und nur wenige erreichen diese Weite jemals), man wird aber auch feststellen müssen, dass man sich nur noch schwerlich entwickelt. Die Rute ist einfach zu hart, um Fehler zu verzeihen und verhindert, dass der Werfer eine saubere Technik entwickelt – etwas, das man auch hierzulande allzu oft sieht.

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Unsere Meinung: Moderne Turnierruten haben das Werfen weitestgehend kaputt gemacht; nur noch wenige Werfer lernen eine wirklich gute, saubere Technik, man verlässt sich auf Gerät und Kraft bei höchstens rudimentärer Technik.

Mehr noch: auch Angler stoßen weitestgehend an ihre Grenzen, bei weitem aber nicht an die ihres Gerätes – äußerst schade, weil damit auch ein gehörig Maß an Spaß verloren geht. Dies alles gilt übrigens nicht nur für ‚englisches‘ Werfen auf der Turnierwiese, sondern auch für das Brandungsangeln mit dreiteiligen Ruten und Stationärrolle an Ostseestränden. Ist ja schön, dass die Ruten im Wurf nicht nachfedern und straff stehen, das Fangen des Fisches gerät in den meisten Fällen nur zum bloßen Einholen, und das nur, weil die straffe Rute selbst bei einem einfachen Überkopfwurf drei Meter weiter werfen kann.

Irgendwann in den letzten Jahrzehnten hat das Gerät und die Entwicklung Angler und Werfer überholt; wir selbst meinen wohl schon Anfang der 1990er Jahre, mit Modellen wie der Zziplex ZF250 / TZ500 oder der ersten Century Kompressor (oder für deutsche Angler: Shimano Surf Custom) war erreicht, was der Angler und Durchschnittswerfer bewältigen kann, danach ging die Entwicklung jedoch weiter, Spaß und Können blieb auf der Strecke zugunsten Ego und Gerätefetischismus.

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Wir finden: Man versuche einmal, mit ‚Vintage‘-Gerät zu angeln oder zu werfen – man wird sehen, es ist eigentlich gar nicht so schwer, aber es macht irrsinnigen Spaß, sowohl auf der Turnierwiese wie auch beim Angeln!

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Ein Gedanke zu “Over the top – Entwicklung in die falsche Richtung?

  1. Auch bei dreiteiligen Ruten – viele lachen über altes oder billiges Gerät, aber mal ehrlich – macht das Einkurbeln eines Fisches mit solch weichem Gerät nicht viel mehr Spaß?

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